Man glaubt, man steht im Wald: Die Eule ruft unheilvoll, der Wind rauscht, Düsternis macht sich breit … Nein, kein Edgar Wallace, nur Hänsel und Gretel. Wobei das kindlichen Gemüt ein "nur" nicht kennt, denn es ist ja wahrlich angsteinflößend, dieses Märchen der Grimm-Gebrüder, deren Botschaft wohl lauten sollte: Knabbert keine fremden Häuschen an! Oder: Geht nie zu nah an einen Backofen!
Scherz beiseite: Was hier wiederveröffentlicht wurde, entspringt der Europa-Reihe "Märchenparade". Mit Hans Paetsch (natürlich) als Erzähler, Stephan Chrzescinski und Susanne Wulkow als Geschwisterpaar. Die sehr gute Produktion hat alles, um das Kopf-Kino in Gang zu setzen: Ticken der Standuhr, Knirschen auf Waldboden, Feuergeknister. Und vielleicht ist es gut, dass die Hexe (Eva Fiebig) nicht derart gruselig wispert wie ihr Pendant auf der FASS-Produktion anno 1968 - die kann selbst dem Ex-Pubertären noch eine Gänsehaut über den Rücken schicken.
In dieser Europa-Fassung hat der Hilfeschrei der fiesen Alten aus dem Backofen beinahe einen komischen Anstrich. Und für alle, die Schauspieler Volker Lechtenbrink kennen, gibt's ein Bonmot aus dem Land Absurdistan: Ausgerechnet der Schauspieler mit dem sonoren Bass leiht der Ente ein recht helles Quaken.
Die CD/MC komplettiert "Frau Holle", ebenfalls der "Märchenparade" entnommen. Wiederum braucht Paetsch nur den Erzählermund aufzumachen, um in die halbvergessene Märchenwelt zu entführen. Und wiederum bezaubert eine exzellente Inszenierung, in der prominente Stimmen wie die von Katharina Brauren, Joachim Wolff, Horst Stark oder Andreas von der Meden auftauchen. Und trotzdem: Klingt Konrad Halver in der ersten "Europa"-Version von 1967 nicht ein wenig flehentlicher als Wolff, der alte Hahn (Heike Kintzel) einen Hauch witziger als jener des Herrn von der Meden? Ansichtssache, aber durchaus möglich, dass Nostalgiker die betagtere Version als die charmantere bevorzugen - auch wenn der Erzähler nicht Paetsch hieß.
Irritierend wirkt bei der Wiederveröffentlichung auf alle Fälle der Schluss: Obwohl Pechmarie gerade die schwarze Pampe übergekübelt bekam, motzt und grantelt sie weiter. Von Läuterung keine Spur - davon schrieben die Brüder Grimm allerdings keine Zeile. Also bitteschön: Wenn schon Märchen mit Moral, dann ruhig den pädagogischen Zeigefinger richtig ausfahren - und keinen Ast durchs Gitter stecken. Stimmt's, Hänsel?